Ich lebe…
Wie oft habe ich schon darüber nachgedacht, was diese Worte wohl bedeuten mögen: ich lebe…, und in der Profanität dieser Aussage, die meist zunächst ein mitleidiges Lächeln hervorbringt, dass aber dann schnell gefriert, wenn die Dimensionen offenbar werden, die diesen zwei Worten innewohnen, gelangt das Denken in einen Knoten, der dem ebenbürtig ist, den einst Alexander mit dem Schwert zerschlug. Wir wissen wenig über das, was wir Leben nennen, außer, dass es angefüllt sei mit Freud und Leid, mit Wachsein und Schlaf, oder wie auch immer die Gegensätze heißen mögen, die gerne von uns dem Leben so achtlos zugeschrieben werden und die wir oft so fraglos akzeptieren.
Und doch greift hier die Lösung nicht, die den Gordischen Knoten einst ereilte, denn das Leben zu zerschlagen bedeutet auch, die Lösung der Frage zu zerschlagen, die sich hinter den Worten “ich lebe” verbirgt. Das Seltsame an diese Rätsel ist die Rückbezüglichkeit, in der das Lebendige sich selbst als “lebendig” erkennt, und das ist etwa so, wie wenn das Rote sich als “rot”, das Blinde sich als “blind” und das Taube sich als “taub” erkennt, gibt es doch kein Anderes, das dem Blinden erklärt, wie die Welt aussieht oder die dem Tauben begreiflich macht, was ein Ton sei, und wer einmal versucht hat, rot zu erklären, wird das Wunder erkennen, das diesem Satz “ich lebe” innewohnt.
Seit mehreren tausend Jahren schon zerbrechen sich Gelehrte aller Kulturen den Kopf über dieses Wunder. Und außer der Ergänzung “also bin ich” scheint nur wenig sinnvolles diesen Worten hinzuzufügen zu sein. Und selbst diese Erweiterung hilft dem Fragenden keinen Millimeter weiter, denn “ich bin” ist genauso gordisch wie “ich lebe”. Und wie immer wir auch unsere Gedanken ordnen, welche Grundeinstellung wir auch immer dem Denken und dem Handeln zugrunde legen, immer wieder enden wir bei diesen Worten und kein Weg führt über sie hinaus. Zahllos sind die Versuche, mittel “ich bin (nicht) dies” oder “ich bin (nicht) das” der Unausweichlichkeit zu entgehen, und obwohl ich dann diesem “dies” oder “das” tausend Eigenschaften und Seinsweisen zuschreiben kann, die dem Denkenden dann zu Schlussfolgerung und Handlung nötigen, bleibt alles doch nur Spekulation oder blinder Glaube. Zum Denken brauche ich ein Zweites, brauche ich ein “Duo”, denn der Beginn des Denkens bildet ein “wenn …, dann …”, und dann erst schreitet es fort mit “…also …”. Wir nennen es Dualität, was soviel heißt wie “aus zwei mach’ drei, und aus drei mach’ viele”. Aber dieses Zweite ist aus “ich bin” nicht abzuleiten, und so bleibt letztlich nur die schon angedeuteten Umwege über Spekulation oder Glaube.
Aber es gibt einen weiteren Gedanken, nicht so offensichtlich zwar, der aber bei näherem Hinsehen schnell eine Möglichkeit öffnet, zu diesem Zweiten zu kommen, und der ohne Annahme und Zuweisung auskommt. Das Zauberwort dieser Möglichkeit ist Vertrauen, und dieser Gedanke gründet sich auf die Beobachtung und Schau der langen Reihe von Begebenheiten, die wir dem Leben so selbstverständlich zuschreiben. Betrachten wir diese Reihe unvoreingenommen und ohne Scheu, so verwerfen wir schnell die Annahme, hier Auslese und Zufälle am Werk zu sehen. Zu folgerichtig und zu gezielt ist diese Reihe abgelaufen, zu schnell, um ohne einen Plan ausgekommen zu sein. Kein Spieler, auch nicht der Verrückteste, würde eine Wette darüber abschließen, dass sich aus einer Spore, einem Keim der einfachsten Art jemals durch Zufall ein Wesen sich entwickeln könne, das dem Menschen ähnlich oder ebenbürtig sei. Und wenn es einen Plan geben muss, und wenn dieser Plan bis zum heutigen Tag funktioniert hat, recht und schlecht zwar, aber funktioniert, dann gibt es keinen Grund anzunehmen, dass er nicht auch weiterführend funktionieren sollte, recht und schlecht zwar, aber weiterführend. Und dieser Gedanke bedarf und verdient unser Vertrauen, und dieses ist es, was das Licht des Zweiten bildet, das wir brauchen, um im Dunkeln unseren Weg zu finden. Zugegeben, auch hier ist Spekulation im Spiel, aber die Chance ist doch erträglich größer, als wenn wir aus aus der unendlichen Vielfalt des Seins eine Wahl treffen zu müssen.
Dieses Vertrauen kann für den Einzelnen die Grundlage sein, das Leben seiner selbst zu gestalten. Aber mehr noch als dies hat der Plan des Lebens dieses Vertrauen hervorgebracht, hat letztlich den Gedanken ermöglicht, dieses so zu sehen, und die Frage drängt sich auf, ob dieses Vertrauen nicht gebraucht wird, ja sogar notwendig ist, um den Plan weiterzuführen. Und bevor wir uns Gedanken darüber machen, wo diese Reise hingehen könnte und wieweit wir wohl kommen werden in diesem Leben, wäre es da nicht erst einmal sinnvoll, die Mittel für die Fahrkarte zu erwerben, die eine Weiterfahrt erst ermöglicht. Unsere bisherige Entwicklung hat uns aufgrund von Instinkt und Anpassung mehr automatisch zu dem Punkt geführt, den wir Bewusstsein nennen, und die weitere Entwicklung kann folgerichtig nur auf diesem aufbauen. Und im Bewusstsein unserer Selbst ist es der Wille, der uns weiter führt, und dieser Wille bedarf gerade des Vertrauens in das Leben und in uns selbst, denn der Weg der Evolution führt ins Neue und Unbekannte und führt somit auch durch das Tor der Angst und Fremdheit, die diesen beiden innewohnen.
Selbstvertrauen und Vertrauen in das Leben sind der Schlüssel zu der Tür des Aufgangs, und dieser Aufgang führt in ein Neues und in ein Unbekanntes, dessen Dimension sich uns verschließt, ja verschließen muss, denn Neues kann nicht aus Altem entstehen, und das, worüber wir Wissen angehäuft haben, ist alt. Neues kann nur auf Altem aufbauen, und weil das Alte das Fundament ist, sollten wir es fest und stabil gestalten, es erkunden und seine Schwächen ausmerzen, damit das Neue sich sicher und dauerhaft auf und aus dem Altem entwickeln kann. Hier ist Geduld gefragt, Mühe und Sorgfalt notwendig, und ein langer Atem, um nicht auf halben Wege zu resignieren oder gar vorschnell auf unsicherem Grund ein wackeliges Haus zu bauen.
Sorgfalt und Mühe sind wichtig, um zu dem Ziel zu gelangen, dass uns das Leben stellt, aber ohne Vertrauen gibt es kein Ziel. Und dieses Ziel kann für unser Denken und Wahrnehmen immer nur der überschaubare nächste Schritt sein, nicht mehr, aber auch nicht weniger.